Summer of Sail

So thanks for making me a fighter

Chemo Nummer 1

Ich weiß nicht, wie ich das Gefühl beschreiben kann, das man an einem solchen Tag hat. Wenn man weiß, dass pures Gift in deinen Körper gepumpt wird. Ich hatte unfassbare Angst vor dem Moment. Man weiß doch nicht, wie sich das anfühlt. Wie lange dauert es bis man etwas merkt. Geht das sofort los? Hat man Schmerzen? Welche Nebenwirkungen werde ich alles haben? Kann ich was tun, damit es besser wird? Das Aufklärungsgespräch enthält eine endlose Liste möglicher Nebenwirkungen. Was genau ich davon bekommen werde, wird dir keiner sagen können. Am Ende bleibt hängen, dass die genaue Überlebensrate, jedoch losgelöst von meinem Alter, bei 70% liegt, wovon übrigens 60% durch die gute OP und 10% durch die Chemo bewerkstelligt werden. Ja, ich gebe zu, einen kurzen Moment überlegt man sich, ob es das wert ist. Denkt nicht mal dran! Wenn es nur 1% wäre, was würdet ihr dafür geben, dieses 1% zu sein? Der zweite Fakt war eine Aussage: Die Chemo ist machbar. Was zum Henker soll das bedeuten? Das ist ein inhaltsloser Satz, der einem nichts an Informationen bringt. Das kann heißen, dass es super schrecklich ist und der Großteil nicht stirbt oder dass man gar nichts spürt. Aber genau das soll der Satz eben machen: Zukunft offen, weil niemand weiß, wie jeder einzelne dieses Gift verträgt.

Es dauerte bis 15 Uhr, bis mein persönlicher Wirkstoff angepasst auf Größe und Gewicht angemischt war. Meine Mutter war geblieben. Ich wollte, dass jemand bei mir ist, wenn das Zeug in mich reinläuft. Und jetzt kommt das Erstaunliche, denn man merkt genau nichts. Man hört ein Surren der Pumpe, sieht das Leuchten des Geräts. Ich taufe ihn Wallace. Wallace ist lahmarschig. Ich bekomme das Schema, auf dem steht, in welcher Zeit jeweils die Medikamente reingelaufen sein sollen. Rechne hoch, ob die Zeit stimmt und treibe alle in den Wahnsinn, wenn ich ihnen vorrechne, dass Wallace zu langsam ist. Kunibert hängt neben mir und stimmt mir zu 😉 Am zweiten Tag läuft man zig Mal auf die Toilette, weil man mit Flüssigkeit voll gepumpt wird. Und sonst übermannt einen die endlose Langeweile in einem Krankenhaus ohne Internet mit einer 90 Jährigen alten Dame neben einem, die gerne schlafen oder Kitschserien im gemeinsamen Fernseher sehen möchte. Ich fessel mich also an alles andere, was ich habe. Ich fange an zu sticken, um mich abzulenken und an Tag 3 stelle ich fest, dass meine Hand komisch zittert. War das vorher schon? Ganz sicher nicht. Da ist sie also: meine erste Nebenwirkung. Meine Hand zittert wie ein Zitteraal. Nadel halten unmöglich. Meine Ärzte haben das noch nie gesehen. Mein Bereichspfleger auch nicht, aber er sagt mir seine persönliche Wahrnehmung. Alte Menschen über der 60 klagen über massive Übelkeit, junge Menschen unter 20 kriegen Kreislaufprobleme und alle dazwischen sind eine Wundertüte, die ein buntes Potpourri aus Nebenwirkungen zeigen können. Ich kriege eine Schiene verpasst, um ruhig schlafen zu können. Nach 3 Tagen ist der Spuk vorbei, eigentlich fühle ich mich gut. Bin frohen Mutes und denke mir „Pah, na das ist ja wohl machbar!“ Aber Übermut kommt bekanntlich vor dem Fall…

Es dauert 3 Tage bis ich in der Nacht mit starkem Bauchweh aufwache. Ich bekomme Durchfall. Unendlich schlimmen Durchfall. 10 Mal renne ich los. Loperamid hilft kaum. Am Ende der Nacht bin ich leer und kraftlos. Der Appetit ist auch weg. Oma hat gekocht. Leckeres Kassler, das ich mir so gewünscht hatte, nachdem ich vor der OP nur noch Brei essen konnte. Ich finde Fleisch eklig. Ich krieg es nicht runter. Man bietet mir Brot als Alternative an. Ich kann es nicht ansehen. Bis heute nicht. Ein Hausbrot mit Kruste ist für mich eine Qual. Was bleibt sind kleine Muschelnudeln. Die kriege ich runter. Na das kann ja heiter werden – italienische Wochen daheim. Sind ja nur noch 11 Chemos…

Der Hürdenlauf

Die Zeit vergeht wie im Zeitraffer. Auch wenn ich mich an vieles erinnern kann in der Anfangsphase vor und während der Diagnose, fängt es jetzt an, schwammig zu werden. Vielleicht kann man es unter der Nebenwirkung „Chemobrain“ einordnen. Ich werde vergesslich, habe Konzentrationsprobleme und erfinde neue Worte und sorge damit für lustige Momente. Manches mal wird es gar makaber, wenn ich erzähle, dass ich bei der OP eingeschläfert wurde (Narkose). Ich bekomme Herzrhythmusstörungen. Mein Herz schlägt in der Nacht nur 33 mal pro Minute. Normal ist mindestens 60 mal. Ich entsprechende damit einem Oktopus – wenigstens ein Meeresbewohner. Ich nehme brav 2kg zu von Chemo zu Chemo. Ja, richtig. Ich nehme zu dank Cortison, das die Übelkeit unterdrückt. Ich werde unfassbar müde, bekomme Kopfweh. Meine Bauchschmerzen gehen zurück. Dafür fallen meine Haare aus. Manchmal nur drei Stück, dann liegt morgens eine ganze Strähne im Bett. Mir wurde gesagt, dass nicht alle ausfallen müssen und man nicht sagen kann, ob ich eine Perrücke brauche. Ich lese, dass man sie anpassen muss, bevor ich alle verloren habe. Ich lasse mir eine Perrücke verordnen und finde sie furchtbar. Ich sehe damit aus wie bei die „Frauen aus Stepford“ oder in „Natürlich Blond“ mit Reese Witherspoon. Ich taufe die Perrücke Elle Woods nach der Hauptfigur. Nach und nach fallen immer mehr Haare aus. Nach dem Waschen ist es am schlimmsten. Ich weine bitterlich, wenn sie gekämmt werden. Meine Großmutter fängt sie auf. Erst später sagt sie mir, dass sie einen Großteil versteckt haben, damit ich nicht weine. Ich beschließe, meine Haare nur noch einmal pro Woche zu waschen. Meine Mützen für die Glatzenzeit ziehe ich nun auf, weil die Haare fettig sind. Ich schäme mich, aber meine Haare sind mir wichtiger. Ich fange an meine Haare zu besingen und zu loben, wenn ich sie mit Babyshampoo wasche, weil es schonender sein soll. Elle Woods liegt bis heute im Keller. Ich habe sie nie genutzt. Auch weil das Gehirn erstaunliches leistet und ausblendet, wie man aussieht. Wenn ich mir heute Bilder ansehe, sehe ich, wie krank ich aussah. Damals fand ich mich vielleicht nicht hübsch, aber meinen kahlen Schädel habe ich nicht erkannt. Meine Psyche hat das für mich ausgeblendet, damit ich 12 Chemos durchhalten kann. Die Zeit zieht sich wie Kaugummi. Alles dreht sich um die Krankheit, ich werde immer schwächer. Schaffe es kaum noch um den Hausblock. Einkaufen halte ich nicht mehr durch. Viele Menschen machen mich nervös. Ich liege auf dem Sofa, schlafe, langweile mich, grüble und schreibe mit Chris. Dann kommt meine Mutter mit einer genialen Idee. Sie veranstaltet einen Hürdenlauf. Jede OP und jede Chemo ist eine Hürde und wenn ich sie genommen habe, kriege ich eine Belohnung. Besuch im Schokoladenmuseum, eine Heißluftballonfahrt, ein Musicalbesuch und ein Bad im Kerzenschein. Was auch immer mein Herz begehrt. 16 Hürden stehen zu Buche und dieses einfache Belohnungssystem motiviert mich. Nach jeder Chemo darf ich ein heißes Bad nehmen, wenn die Wunde vom Nadelstich in den Port verheilt ist. Jedes Mal leuchtet eine Kerze mehr. Ich springe geradezu über meine Hürden drüber. Alle gemeinsam werden wir gegenseitig zu Motivationscoachs. Wenn wir zur Chemo fahren, singen wir lauthals mit: „Jede Zelle meines Körpers ist glücklich, jede Zelle meines Körpers ist froh“, „und wenn ich für dich fliegen muss, krieg ich das irgendwie hin“ oder „Du bist ein Geschenk“. Ich fange an, die Chemo als meinen Freund zu sehen, der mir hilft und mich belohnt. Alles eine Frage der Einstellung. Ich finde ein neues Motto: Wer aufgibt, gibt zu viel auf!

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