Summer of Sail

Saying Goodbye

Heute genießen Chris und ich einen Moment der Stille. Es ist genau ein Jahr her, dass wir den 90. Geburtstag seiner Großmutter Ilse gefeiert haben. Wieder eine Parallele zwischen uns, denn auch meine Oma heißt Ilse. Wir sind extra nach Bad Arolsen gefahren bei  Kassel. Ein kleines Städtchen, das auch vom Aussterben bedroht ist, weil es die Menschen mehr und mehr in die Städte zieht.

Von dort kommt die Familie von Christian. Seine Mutter ist dort groß geworden und es war schön in diese kleine Welt einzutauchen. Ein 90. Geburtstag ist Anlass genug. Seine Großmutter hatte ich schon zwischen den Jahren 2016 kennen gelernt. Damals war sie zu Besuch bei Christians Eltern in Berchtesgaden. Eigentlich war ein kleiner Urlaub geplant, aber dann stürzte Oma Ilse die Treppe hinunter. Sie brach sich das Becken und blieb dann länger, weil es alleine nicht mehr gehen würde daheim. Petra hat sie liebevoll umsorgt, ist jede Nacht 3-4 Mal zur Toilette mit Ilse. Es gab eine eigene Klingel „den Hilferuf“. Ich erinnere mich noch, dass Christian mir schrieb, dass Oma Ilse nicht an der Bescherung teilnimmt, weil sie müde ist und gegen 18 Uhr ins Bett wollte. Irgendwie verrückt, denn als Kind liebt man das Weihnachtsfest. Man ist doch total aufgeregt und kann es kaum erwarten, genießt dieses warme Nestgefühl, das Familiäre daran und freut sich auch über Geschenke. Ich frage mich, ob dieses Gefühl immer zum Ende der Lebenszeit verloren geht?

Das Ende vom Lied war eine Kurzzeitpflege im „Ars Vivendi“ in Bad Arolsen. Alte Bäume verpflanzt man nicht. Sie haben Wurzeln geschlagen und Oma Ilse wollte zurück in ihre Heimat. Eigentlich wollte sie in ihre Wohnung im zweiten Stock ohne Aufzug, aber da Treppen unmöglich waren, wurde ihr das Ars Vivendi schmackhaft gemacht. Man kann nicht behaupten, dass sie es gemocht hat, aber es war eigentlich eines der besseren Alten- und Pflegeheime. Aus der Kurzzeit- wurde schließlich doch die Landzeitpflege. Sie war doch nicht mehr fit genug, um den Alltag alleine zu meistern, auch wenn sie sich das nicht eingestehen wollte oder konnte. Die Demenz im Alter, wobei ich nicht einmal glaube, dass es Alzheimer war, sondern einfach eine stinknormale Altersdemenz, nahm mehr und mehr Überhand.

Wir fuhren also die 5 Stunden nach Bad Arolsen zu Oma Ilses 90. Geburtstag. Es war keine große Feier geplant, ein einfaches Mittagessen mit der Familie würde genügen. Man wäre froh, wenn sie dahin mit mag und an ein gemeinsames Stück Kuchen war gar nicht zu denken. Mittags holten wir Oma Ilse dann ab an ihrem besonderen Tag und das Strahlen in ihren Augen war herzerwärmend. Sie hat gemerkt, dass es ihr Geburtstag ist und ein ganz besonderer Tag. Sie hat sich so unendlich gefreut, ihre Enkel zu sehen. Sie hat sie alle wieder erkannt. Ich war Dagmar 😉 Ich war dann doch etwas zu frisch. Laut Petra hieß jede ihr unbekannte Frau einfach Dagmar. Wir saßen in dem Restaurant und das Highlight war einfach nur, dass sie mit vollem Appetit eine Portion Spargel gegessen hat. Zum Nachtisch wollte sie sogar noch ein Eis essen. Es war ein schöner Geburtstag, klein und fein. Und wundersamer Weise kam sie auch noch auf ein Stück Kuchen mit. Nachdem wir sie am Abend mit Altenheim abgesetzt haben und Petra noch Cola und Mini-Schaumküsse besorgt hatte, die sie ratzfatz verputzte, versammelten wir uns in der ehemaligen Wohnung. Ein Ort, an dem die Zeit gestehen belieben war. Die perfekte Kulisse, um einen Film aus den 70ern zu drehen. Schrille bunte Tapeten, große Eichenschränke, viel Häkelkunst auf jeder Ablagefläche. Es war Ilses Welt, ganz unberührt. An der Korkwand waren alte Sprüche angepinnt. Alte Bilder, gemalt von den Enkeln, hingen an der Wand. Die Spielsachen von Petra aus Kindertagen noch feinsäuberlich aufgestellt. Das Buch von Christians Großvater, in dem er Analysen der Lottozahlen über Jahrzehnte tätigte, lag noch auf den Schreibtisch. Es war faszinierend, das alles zu sehen. Fast wie in einem Museum. Es war, als ob diese Wohnung stehen geblieben war. Sie wartete auf die einzigen Bewohner, die hier reinpassten. Doch leider kam es dazu nicht. Nur gute 4 Wochen später sind wir wieder nach Bad Arolsen gereist. Dieses Mal zur Beerdigung von Oma Ilse.

Traurig und klassisch. 20% der Patienten mit einem Bruch in hohem Alter sterben innerhalb eines Jahres nach dem Ereignis, weil die Kapazitäten zur Regeneration einfach aufgebraucht werden. Sie bäumen sich nochmal auf und erleben das große Ereignis, auf das sie so lange gewartet haben. Wahrscheinlich ist es ein guter Abschluss, die 90 zu erreichen. Sie hatte einen fantastischen Geburtstag, hat ihn in vollen Zügen genossen. Was uns bleibt, ist die Gewissheit, dass sie ein letztes Mal pure Freude im Kreis der Familie verleben durfte.

Was uns immer bleibt sind die Erinnerungen. Erinnerungen an die guten und die schlechten Zeiten. An alles, was wir erlebt haben und geliebt haben. An alles, was wir genossen und ausprobiert haben. Deswegen sollte man lieben und leben, genießen und ausprobieren. Denn das macht das Leben aus. Wir wissen nicht wie viel Zeit wir haben, aber am Ende sollte es ein Leben voller Erfahrungen und Erinnerungen sein. Tausende kleine Momente, die wir gesammelt haben, um sie nie zu vergessen. Und ich persönlich glaube, dass es die Menschen sein werden, die sie besonders machen. Wieviel schöner ist ein Erlebnis, wenn man es teilen kann. Wir sind dankbar für die Momente mit Oma Ilse und möchten diese heute besonders wertschätzen. Happy Birthday, Oma Ilse.

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